Viele Schüler denken, dass es bei mathematischen Problemen nur auf das Ergebnis ankommt, d.h. den Schülern geht es in erster Linie um das Rezept, wie man schnell zu einem bestimmten Ergebnis, nämlich dem richtigen, kommt. Diese Grundeinstellung beim Mathematiklernen ist jedoch ein Fehler, der später oft zu Problemen führt, weil bei vielen Schülern der unverzichtbare Kontrollmechanismus des Verstehens durch die vorhandenen Formeln ausgeschaltet ist, d.h. die Schüler orientieren sich nur am Weg zum Ergebnis, nicht aber am Prozess.
Eine der wichtigsten Grundlagen des Mathematiklernens ist es daher, das Schätzen zu lernen und ein Gefühl für die Plausibilität eines Rechenvorgangs zu entwickeln. In diesem Zusammenhang kann man auch sagen, dass es bei jedem Rechenvorgang in der Mathematik vor allem auf den Sinn einer Rechnung ankommt, nicht auf die Zahlen oder Formeln allein.
Eine Studie zeigte die große Bedeutung des Zahlengefühls, wenn Grundschüler das Rechnen durch Schätzen lernen. Im Mathematikunterricht lernen Grundschülerinnen und Grundschüler vor allem, exakte Ergebnisse zu berechnen. Genauso wichtig im Alltag ist die Fähigkeit, die ungefähre Größe von Zahlen zu schätzen. Das Problem ist, dass sehr viele Menschen keine Vorstellung von großen Zahlen haben und sich in diesem Zusammenhang auch keine Gedanken über die sinnvolle Genauigkeit solcher Größenordnungen machen. Hofstadter nennt dieses weit verbreitete Phänomen übrigns mathematischen Analphabetismus, der nicht nur kein Gefühl für Zahlen sondern auch die fehlende Vorstellung über Größen beinhaltet.
Man fand bei neuropsychologischen Untersuchungen, dass das Schätzen ganz andere Areale im Gehirn beansprucht, als sie beim Durchführen genauer Rechnungen benötig werden. Bei exakten Berechnungen wiesen die Gehirnströme der Probanden rege Aktivitäten im linken Stirnlappen auf, im Übrigen die gleiche Stelle, in der Menschen Verben oder auch Zahlennamen verarbeiten, somit ist genaues Rechnen eng mit Sprache verbunden. Wurden hingegen nur grobe Größenordnungen einer Lösung verlangt, so wurden vor allem jene Bereiche in beiden Hirnhälften aktiviert, die wir auch für räumliche Problemstellungen nutzen und die für Finger- und Augenbewegungen zuständig sind. Somit bilden diese Areale quasi den Ort für den menschlichen, nicht-sprachlichen Zahlensinn. Schon im Babyalter ist bereits ein Zahlensinn vorhanden, wobei sich erst später, durch das Erlernen von Sprache, das Areal für exakte Berechnungen heraus entwickelt. Erst mit dem Sprechenlernen kommt beim Kind das exakte Rechenmodul hinzu, das sich der Mensch im Verlauf der Evolution mit der Sprache angeeignet hat. Erst die Kombination der beiden gaben dem Menschen schliesslich die Fähigkeit, mit Zahlen zu jonglieren und komplizierte mathematische Probleme zu lösen.
Daher wird durch das in der Schule oft praktizierte reine Üben exakter Berechungen die Entwicklung des Zahlensinns vernachlässigt, das sich auf diesem Wege nicht oder nur wenig ausbildet. Diese Erkenntnisse erklären auch, warum gute Rechner nicht automatisch gute Schätzer sein müssen, wobei nicht selten zu beobachten ist, dass Kinder, die exakte Rechnungen schnell und sicher durchführen können, Probleme im Überschlägen oder Schätzen zeigen.
Literatur
Dehaene, Stanislas (1999). Mathematik und Hirn: Der Zahlensinn“. Birkhäuser Verlag.
Stangl, W. (2011, 3. Juni). Neuropsychologische Gedächtnisstudien. [werner stangl]s arbeitsblätter.
https://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/GEDAECHTNIS/Gedaechtnisstudien.shtml
Stangl, W. (2012, 2. März). Warum ist Mathematik so schwer zu lernen? Lerntipps: Die Neuigkeiten.
https:// lerntipps.lerntipp.at/warum-ist-mathematik-so-schwer-zu-lernen
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