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Pädagogik, ein hegemoniales Macht- und Herrschaftsinstrument?

Sprache lernen im Vorübergehen! Lernposter

Nach Ansicht von linksorientierten Kritikern ist Pädagogik weder neutral noch harmlos, sondern eine zentrale Macht- und Herrschaftstechnik, die etwa mittels der Regulierung von Bildungszugängen die gesellschaftliche Ordnung stabilisiert. So wirken schulische Praxen auf einige SchülerInnen ausgrenzend, weil sie diese entweder nicht verstehen, oder weil sie ihnen widerstehen müssen, wollen sie nicht von diesen permanent verletzt werden. Die Sprache, die verlangt wird, und die Disziplinierung der Körper schließen SchülerInnen aus, die nicht bereits vor dem Eintritt in die Schule Hochdeutsch sprechen und mindestens dreißig Minuten ruhig und konzentriert sitzen können. So wird Schule vom ersten Tag an für dies Kinder zur Tortur. Dabei geht es nicht nur um den heimlichen Lehrplan, also das Erlernen von Herrschaftswissen, sondern auch um die individuelle Erfahrung von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit. Lernen ist unter diesem Gesichtspunkt das Ergebnis hegemonialer Verhältnisse und ein wichtiges Instrument für die Aufrechterhaltung von Macht- und Herrschaftsverhältnissen, aber zugleich eine praktische Aneignung sozialer Zusammenhänge.

Legt man eine postkoloniale Perspektive an, wie dies María do Mar Castro Varela (s. u.) in ihren Arbeiten tut, so erweist sich das Konzept der epistemischen Gewalt als zentral, um Bildungsprozesse als wichtiges Element der Aneignung von Verhältnissen und der Hegemoniesicherung wahrzunehmen, das manche provokant als mindfucking bezeichnen. Epistemische Gewalt umfasst die gnadenlose Missachtung und Auslöschung subalternen Wissens und beschreibt zugleich die hegemoniale Wissensproduktion, die früher etwa koloniale Herrschaft legitimierte und stabilisierte. Über Jahrhunderte hinweg wurden so eurozentrische Sichtweisen kanonisiert, die EuropäerInnen eine zentrale Stellung im Wissensuniversum einräumen und die Reproduktion imperialistischer Subjekte sicherten.

Aus dieser Perspektive ergibt sich zwangsläufig die Forderung nach kognitiver Gerechtigkeit, die nach der Berücksichtigung der Gewalt bei der Etablierung eines Wissenskanons verlangt und auf die Wahrnehmung eines Wissens zielt, das jahrhundertelang disqualifiziert wurde. Kognitive Gerechtigkeit greift damit in hegemoniale Kanonisierungsprozesse ein und fokussiert die epistemische Marginalisierung, die die materielle, körperliche begleitet und legitimiert. Wenn das Wissen, über das ein Mensch verfügt, nicht als Wissen anerkannt ist, wird man auch nicht als wissende Person erkannt, sondern als ignorant markiert und bleibt damit ungehört, während diejenigen, die das hegemoniale Wissen griffbereit haben, immer schon als klug und wissend gelten.

Koloniales Wissens diente der optimierten Beherrschung der Kolonien und erschuf gleichzeitig das Andere, wobei der Orient in dieser Bewegung zum Antagonismus des Okzidents wurde, das konstitutive Außen, das bei der Herstellung des imperialistischen Subjekts eine notwendige Rolle spielte. So wurde die Macht von den Kolonialmächten eingesetzt, um Wissen hervorzubringen bzw. wurde Wissen instrumentalisiert, um Macht und Herrschaft zu sichern. Innerhalb dieses Prozesses wurde nicht nur bestimmtes Wissen vernichtet und disqualifiziert, sondern der Westen vereinnahmte auch erhebliches Wissen und gab es als eigenes aus. Dies ist aus dieser Perspektive eine andere Form von Raub, ein epistemischer Raub. Während geraubte Kunstwerke, die in den Museen Europas präsentiert werden, noch identifizierbar sind, so ist das appropriierte Wissen der Anderen nahezu unsichtbar. Dekolonisierung bedarf daher eines epistemischen Wandels, dessen Ziel unter anderem ist, denjenigen, die bisher systematisch von Bildung ferngehalten wurden, eine Bildung zu ermöglichen, die diese in die Lage versetzt, an Demokratie aktiv teilzunehmen.

Hinweis: María do Mar Castro Varela ist Professorin für Soziale Arbeit und Allgemeine Pädagogik an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin. Die Psychologin, Pädagogin und Politologin beschäftigt sich vor allem mit Postkolonialer Theorie, Kritischer Migrationsforschung, Critical Education sowie Gender und Queer Studies.



Literatur

Castro Varela, María do Mar (2015). Strategisches Lernen.
WWW: https://www.academia.edu/27907086/Strategisches_Lernen (20-05-14)
Castro Varela, María do Mar & Nikita Dhawan (2015). Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung. Bielefeld.


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