Vieles, was derzeit allerdings unter dem Schlagwort „hirngerechtes Lernen“ angeboten wird, ist Humbug, fasst Nicole Becker in ihrem Buch „Die neurowissenschaftliche Herausforderung der Pädagogik“ zusammen. Wenig Forschungsgebiete erhalten derzeit so viel Aufmerksamkeit wie die Hirnforschung. Hirnforscher und Hirntrainer füllen große Säle mit Vorträgen über „hirngerechtes Lernen“ und geben mit dem Verweis auf die Beschaffenheit des menschlichen Gehirns Empfehlungen, wie Unterricht und LehrerInnen beschaffen zu sein haben. Jedoch entbehrt Vieles jeglicher wissenschaftlicher Grundlage, denn einige dieser Hirnforscher haben eine völlig überzogene Vorstellung über die Reichweite ihrer Forschung bzw. wenig Ahnung von den Anforderungen des Unterrichts in Schulen.
Häufig findet man dabei pädagogische Empfehlungen, die sich auf Forschungsergebnisse berufen, tatsächlich aber keine belegbare wissenschaftliche Quelle haben, sondern in Zitations-Zirkeln auf andere Artikel verweisen, die aber wiederum selbst keine empirische Grundlage haben. Besonders häufig zu finden ist die These, dass durch das Schulsystem die linke, rationale Hirnhälfte permanent überfordert und die rechte Hirnhälfte mit ihren kreativen und emotionalen Fähigkeiten unterfordert wird. Daher werden in der Edu-Kinestetik gymnastische Übungen zur Integration beider Gehirnhälften empfohlen, um dadurch Lernblockaden zu beseitigen. Zwar sind solche Überkreuz-Übungen hinsichtlich der Motorik recht wirksam, aber dass man damit Lernstörungen beheben kann, ist Unsinn.
Ein weiterer Mythos betrifft die Theorie der Lernfenster, der sensiblen Phasen. Daher rühren Empfehlungen zur Frühförderung mit klassischer Musik, Englisch-Kurse für Babys. Sensible Phasen gibt es tatsächlich, allerdings nur für die sensorischen Fähigkeiten. Studien haben gezeigt, dass Sehe und Hören sich in den ersten Lebensjahren ausprägen und Versäumnisse später nicht mehr zu korrigieren sind. Das gilt aber nicht für die allgemeine Lernfähigkeit, denn für kognitives Lernen gibt es keine Lernfenster. Schließlich ereignet sich erfahrungsabhängiges Lernen ein Leben lang.
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