In der Geschichte des Schulbaus steht die sogenannte Flurschule exemplarisch für ein pädagogisch-architektonisches Modell, das den Bedürfnissen der industriellen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts entsprach. Kennzeichnend ist die lineare Anordnung abgeschlossener Klassenräume entlang langer, schmaler Flure, deren Funktion primär auf Erschließung und Kontrolle ausgerichtet ist. Der Unterricht in diesen Räumen folgt in der Regel einem lehrkraftzentrierten, frontalen Prinzip, das auf Standardisierung und Effizienz beruht. Die bauliche Struktur diente somit einer Pädagogik, die Disziplin, Gleichförmigkeit und Reproduzierbarkeit von Wissen priorisierte (Bundesstiftung Baukultur, 2025). Historisch gesehen war die Flurschule Ausdruck einer Zeit, in der Bildung als planbarer, uniformer Prozess verstanden wurde, der durch räumliche Ordnung und klare Hierarchien unterstützt werden sollte.
Die Kritik an diesem Modell hat in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen. Mit dem Wandel hin zu einer konstruktivistischen Lernauffassung, die Lernen als aktiven, individuellen und sozialen Prozess versteht, erscheinen die starren Raumkonzepte der Flurschule zunehmend als unvereinbar mit zeitgemäßen Bildungszielen. Forschungen zeigen, dass Räume maßgeblich dazu beitragen, wie Lernende interagieren, kommunizieren und Wissen konstruieren – der Raum gilt somit als „dritter Pädagoge“ (bpb.de, 2023). Die traditionelle Flurschule steht diesem Verständnis entgegen, da ihre Architektur auf Trennung, Kontrolle und Standardisierung beruht und kaum Möglichkeiten für flexible, kollaborative oder selbstgesteuerte Lernprozesse bietet. Flure bleiben dabei meist reine Verkehrsflächen, ohne pädagogischen Mehrwert oder soziale Funktion (HK Architekten, 2021). Auch die psychologische Wirkung abgeschlossener Klassenräume wird kritisch gesehen: Sie können Isolation fördern und den Austausch zwischen Klassen und Lehrkräften erschweren, was wiederum das Gemeinschaftsgefühl und die schulische Identifikation schwächt (Deutsches Schulportal, o. J.).
Gleichzeitig erschweren bauliche Gegebenheiten bestehender Flurschulen – etwa Brandschutzvorgaben oder unzureichende Lichtverhältnisse – eine nachträgliche Öffnung und Umgestaltung der Räume (Schulbau Open Source, 2022). Trotz dieser Defizite wird die Flurschule aus pragmatischen Gründen vielerorts beibehalten: Sie gilt als wirtschaftlich, leicht planbar und vertraut im Schulalltag. Doch pädagogisch betrachtet steht sie zunehmend im Widerspruch zu den Anforderungen einer pluralen, digitalen und inklusiven Gesellschaft (Suhr, 2022).
Die Lernforschung zeigt, dass moderne Bildung nicht durch das bloße „Eingießen“ von Wissen, sondern durch aktive, kooperative und reflexive Lernprozesse entsteht. Der aus der Zeit der Industrialisierung stammende Gedanke der Flurschule, Wissen könne wie in einem „Nürnberger Trichter“ vermittelt werden, widerspricht dieser Erkenntnis (Suhr, 2022). Neue Lernformen – etwa das Konzept des Flipped Classroom, das eigenständige, digitale Wissensaneignung mit gemeinsamer Reflexion in der Präsenzzeit kombiniert – benötigen Räume, die flexibel gestaltet und anpassbar sind. Auch inklusiv arbeitende Schulen, die individuelle Förderung und Differenzierung anstreben, können in den engen, einheitlich möblierten Klassenzimmern kaum ihre pädagogischen Potenziale entfalten (Hohenloher, 2024).
Darüber hinaus führt die Ausweitung von Ganztagsschulen zu weiteren räumlichen Herausforderungen. Schulen, die ursprünglich als Halbtagseinrichtungen konzipiert wurden, sind oft nicht auf längere Aufenthaltszeiten, Rückzugsräume oder rhythmisierte Lern- und Ruhephasen ausgelegt. Eine reine Verlängerung des traditionellen Frontalunterrichts bis in den Nachmittag wäre pädagogisch kontraproduktiv. Vielmehr erfordert der Ganztagsschulbetrieb eine Neubewertung räumlicher Strukturen – Lerninseln, Ruhebereiche und Gruppenräume müssen Teil eines ganzheitlichen architektonischen und didaktischen Konzepts sein (Hohenloher, 2024).
Insgesamt zeigt sich, dass die Flurschule weniger als pädagogischer Ort des Lernens, sondern eher als räumliche Manifestation vergangener Bildungsideale betrachtet werden muss. Während sie in der industriellen Epoche eine sinnvolle Antwort auf gesellschaftliche Anforderungen war, stellt sie heute ein Hemmnis für innovative Unterrichtsformen dar. Die Zukunft schulischer Architektur liegt in offenen, modularen und multifunktionalen Lernlandschaften, die soziale Interaktion, digitale Bildung und individuelle Förderung gleichermaßen ermöglichen. Eine solche Architektur versteht den Raum nicht mehr als neutrale Hülle, sondern als aktiven Bestandteil des Lernprozesses – ein Paradigmenwechsel, der sowohl pädagogische als auch architektonische Perspektiven neu verknüpft.
Literatur
Bundesstiftung Baukultur. (2025). Beiträge zur Reform der Grundschule, Band 157: Lernräume – Schularchitektur. Brandenburg: Verlag der Bundesstiftung Baukultur.
Deutsches Schulportal. (o. J.). Das Ende der Flurschule: Architektur und Schule. Abgerufen am 7. Oktober 2025, von https://deutsches-schulportal.de/schulkultur/das-ende-der-flurschule/
HK Architekten. (2021). Forschungsbericht: Entwicklung eines integralen und zukunftsweisenden Planungsmodells. Wien: HK Architekten.
Hohenloher. (2024). Was Schulen wirklich brauchen: Flexible Lernräume für moderne Lernkonzepte. Abgerufen von [https://www.hohenloher.de](https://www.hohenloher.de)
Schulbau Open Source. (2022). Erschließung und pädagogische Nutzung von Fluren im Schulbau. Abgerufen von https://schulbauopensource.de
Suhr, D. (2022, Mai). Die pädagogische Dimension des Raums – Warum das Konzept „Flurschule“ überholt ist. MINT Zirkel.
Bundeszentrale für politische Bildung (bpb). (2023). Der Raum als dritter Pädagoge: Über neue Konzepte im Schulbau. Abgerufen von https://www.bpb.de/lernen/digitale-bildung/werkstatt/278835/der-raum-als-dritter-paedagoge
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