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Der Lerntypenmythos und seine Folgen für die Bildungspraxis

Sprache lernen im Vorübergehen! Lernposter

Die Vorstellung, dass Menschen je nach bevorzugtem Sinneskanal – visuell, auditiv oder haptisch – besser lernen, ist weit verbreitet und besonders im Bildungsbereich tief verankert. Trotz fehlender wissenschaftlicher Belege glauben laut Studien rund 90 Prozent der Lehrkräfte weltweit und sogar 95 Prozent der angehenden Lehrkräfte in Deutschland daran, dass der Unterricht auf sogenannte „Lerntypen“ abgestimmt sein sollte. Diese Beharrlichkeit auf eine pseudowissenschaftliche Theorie kann jedoch weitreichende negative Folgen für die pädagogische Praxis und das Selbstbild von Lernenden haben.

Die Ursprünge der Lerntypen-Theorie reichen in die 1970er- und 1980er-Jahre zurück. Der Bildungsforscher Neil Fleming entwickelte das VARK-Modell, das vier Lernpräferenzen unterscheidet: Visual (visuell), Auditory (auditiv), Reading/Writing (lesen/schreiben) und Kinesthetic (haptisch). In einer Zeit wachsender Individualisierung im Bildungswesen erschien es plausibel und attraktiv, den Unterricht an diese individuellen Unterschiede anzupassen. Die Theorie fand breite Unterstützung, wurde in populärwissenschaftlichen Publikationen, Lehrerfortbildungen und Online-Ratgebern verbreitet und entwickelte sich zu einem vermeintlich unumstößlichen pädagogischen Dogma.

Doch aus empirischer Sicht handelt es sich bei der Lerntypen-Theorie um einen Mythos. Eine Vielzahl wissenschaftlicher Studien konnte nicht belegen, dass die Anpassung des Unterrichts an individuelle Lernpräferenzen zu besseren Lernerfolgen führt. Stattdessen zeigen neuere Untersuchungen, dass die Kategorisierung von Lernenden nach Lerntypen stereotype Wahrnehmungen verstärken und langfristig schädlich sein kann. Eine bemerkenswerte Studie von Sun, Norton und Nancekivell (2023) untersuchte in drei Experimenten, wie die Zuschreibung eines Lerntyps das Urteil von Kindern, Eltern und Lehrkräften über die intellektuellen Fähigkeiten von Schülerinnen und Schülern beeinflusst.

Im ersten Experiment bewerteten Eltern und Kinder im Alter von sechs bis zwölf Jahren zwei fiktive Kinder, die entweder als „visuell“ oder als „praktisch Lernende“ beschrieben wurden. Beide Gruppen hielten das „visuelle“ Kind für intelligenter. Im zweiten Experiment sollten Eltern und Lehrkräfte vorhersagen, in welchen Schulfächern die jeweiligen Lerntypen besser abschneiden würden. Dabei zeigte sich ein konsistentes Muster: Visuellen Lernern wurden bessere Leistungen in klassischen Schulfächern wie Mathematik, Sprache und Sozialwissenschaften zugeschrieben, während praktisch Lernenden Fähigkeiten in kreativen und sportlichen Bereichen attestiert wurden. Im dritten Experiment sollten Schulnoten vorhergesagt werden – auch hier zeigte sich dieselbe verzerrte Einschätzung.

Diese Ergebnisse verdeutlichen, wie tief verwurzelt der Glaube an Lerntypen ist und welche negativen Effekte er auf die Wahrnehmung und Entwicklung von Schülerinnen und Schülern haben kann. Wenn Kindern suggeriert wird, dass sie nur auf eine bestimmte Art und Weise lernen können, schränken sie sich selbst ein. Sie vermeiden möglicherweise alternative Lernstrategien und werten bestimmte Fächer als „nicht passend“ für ihren Typ ab. Dies kann zu selbsterfüllenden Prophezeiungen führen, die ihr Lernverhalten und ihr schulisches Selbstkonzept negativ beeinflussen.

Statt an der überholten Idee fester Lerntypen festzuhalten, sollte Unterricht vielfältig und inhaltsbezogen gestaltet werden. Verschiedene Darstellungsformen – wie visuelle, sprachliche und praktische Zugänge – sollten nicht an mutmaßliche Lerntypen angepasst, sondern didaktisch begründet eingesetzt werden. Besonders wirksam ist die sogenannte duale Kodierung (dual coding), bei der Informationen gleichzeitig über zwei Kanäle – etwa visuell und verbal – vermittelt werden. Diese Strategie fördert das tiefere Verständnis und die langfristige Speicherung von Lerninhalten.

Die Persistenz der Lerntypen-Theorie zeigt, wie attraktiv einfache Erklärungsmodelle im Bildungsbereich sein können – selbst wenn sie wissenschaftlich längst widerlegt sind. Es liegt in der Verantwortung von Bildungspolitik, Lehrkräfteausbildung und pädagogischer Forschung, evidenzbasierte Praktiken zu fördern und Mythen zu entkräften, die den Lernenden mehr schaden als nützen.



Literatur

Stangl, W. (2012, 15. Mai). Die Lerntypentheorie – eine Kritik. [werner stangl]s arbeitsblätter.
https://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/LERNEN/Lerntypen.shtml
Stangl, W. (2014, 15. Mai). Schon wieder Lerntypen. News zum Thema Lernen.
https:// news.lerntipp.at/schon-wieder-lerntypen/.
Sun, X., Norton, O. & Nancekivell, S. E. (2023). Beware the myth: learning styles affect parents’, children’s, and teachers’ thinking about children’s academic potential. npj Science of Learning, 8, 46.


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