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Vorsicht vor falschen Lerntipps im Netz: Warum „Gedächtnisakrobatik“ selten im Alltag hilft

Sprache lernen im Vorübergehen! Lernposter

Das Internet, insbesondere soziale Medien wie YouTube, TikTok oder Instagram, ist voll von Ratschlägen zum Lernen. Viele davon stammen jedoch von Laien und propagieren Techniken, die für den Schul- oder Studienalltag völlig ungeeignet sind. Oftmals werden uralte Mnemoniken wie die Loci-Technik oder der Gedächtnispalast für das Vokabellernen angepriesen – ein vollkommen unsinniger Ansatz. Auch Methoden, die von Gedächtnisweltmeistern und „Gehirnakrobaten“ in Vorträgen beeindruckend präsentiert werden, finden sich dort als vermeintliche Allheilmittel für das alltägliche Lernen wieder. Doch warum sind diese vermeintlichen „Super-Lerntipps“ für den Großteil der Lernenden kontraproduktiv?

Gedächtniskünstler vs. Alltagslernen: Ein fundamentaler Unterschied

Der Hauptgrund für die Ungeeignetheit vieler dieser Tipps liegt in einem fundamentalen Missverständnis: Gedächtnisweltmeister trainieren ihr Gedächtnis für spezifische, oft singuläre Aufgaben, wie das Memorieren langer Zahlenreihen, Kartenspiele oder das Auswendiglernen von Wörtern in einer bestimmten Reihenfolge. Ihr Ziel ist es, eine große Menge an Informationen in kürzester Zeit abzurufen. Das alltägliche Lernen in Schule und Studium hingegen erfordert ein tiefes Verständnis, die Vernetzung von Wissen, kritisches Denken und die Fähigkeit zur Anwendung des Gelernten in verschiedenen Kontexten.

Psychologische Forschung belegt, dass für nachhaltiges Lernen und tieferes Verständnis andere Strategien deutlich effektiver sind als reine Mnemotechniken:

  • Aktives Abrufen (Retrieval Practice): Statt nur passiv Informationen zu wiederholen, sollte man versuchen, sie aktiv aus dem Gedächtnis abzurufen. Das kann durch Selbsttests, das Beantworten von Fragen ohne Hilfsmittel oder das Erklären von Konzepten in eigenen Worten geschehen. Studien von Roediger und Karpicke (2006) haben gezeigt, dass aktives Abrufen effektiver ist als wiederholtes Lesen für den Langzeitbehalt.
  • Verteiltes Lernen (Spaced Practice): Anstatt den gesamten Lernstoff in einer einzigen Sitzung zu pauken (Massed Practice), ist es effektiver, das Lernen über längere Zeiträume zu verteilen. Kurze, regelmäßige Lerneinheiten sind effizienter als wenige, lange. Dieses Prinzip wird seit Jahrzehnten in der Lernpsychologie erforscht und seine Wirksamkeit ist gut dokumentiert (z.B. Cepeda et al., 2006).
  • Elaboration und Verknüpfung: Neues Wissen sollte aktiv mit bereits vorhandenem Wissen verknüpft werden. Das bedeutet, sich Fragen zu stellen wie „Wie hängt das mit dem zusammen, was ich schon weiß?“ oder „Kann ich ein Beispiel dafür finden?“. Dies fördert ein tieferes Verständnis und erleichtert den Abruf. (Bransford & Johnson, 1972)
  • Wechsel des Lernstoffes (Interleaving): Statt sich auf ein Thema zu konzentrieren, bevor man zum nächsten übergeht, ist es oft effektiver, verschiedene Themen oder Arten von Problemen in einer Lerneinheit abzuwechseln. Das kann anfangs schwieriger erscheinen, führt aber zu einem besseren Verständnis und einer besseren Unterscheidungsfähigkeit zwischen Konzepten (Rohrer et al., 2015).

Warum Loci-Technik und Co. für das Vokabellernen ungeeignet sind

Die Loci-Technik oder der Gedächtnispalast basieren darauf, Informationen an bestimmte Orte in einem mentalen „Palast“ oder auf einem bekannten Weg zu „platzieren“ und diese Orte dann abzugehen, um die Informationen abzurufen. Für das Lernen einer Liste von 50 unzusammenhängenden Objekten mag dies funktionieren und beeindruckend aussehen. Für das Vokabellernen ist es jedoch ineffizient und kontraproduktiv:

  • Hoher Initialaufwand: Das Erstellen eines effektiven Gedächtnispalastes und das Verknüpfen jedes einzelnen Wortes mit einem Ort erfordert einen enormen Zeit- und Arbeitsaufwand, der in keinem Verhältnis zum Nutzen steht. Man verbringt mehr Zeit mit der Konstruktion des Palastes als mit dem eigentlichen Vokabellernen.
  • Mangel an Kontext und Anwendung: Vokabellernen ist mehr als nur das Auswendiglernen von einzelnen Wörtern. Es geht darum, Wörter in Sätzen zu verstehen, ihre verschiedenen Bedeutungen zu kennen und sie korrekt anwenden zu können. Die Loci-Technik bietet hierfür keinen Kontext.
  • Fehlende Flexibilität: Was passiert, wenn man Hunderte oder Tausende von Vokabeln lernen muss? Man bräuchte unzählige Gedächtnispaläste. Zudem sind die Verknüpfungen oft isoliert und schwer auf neue Kontexte übertragbar.
  • Für das Vokabellernen sind bewährte Methoden wie Karteikartensysteme mit aktivem Abruf (z.B. Leitner-System), das Lernen im Kontext (Lesen, Hören, Sprechen) und die regelmäßige Anwendung der Vokabeln weitaus effektiver.

Quellenkritik ist entscheidend

Angesichts der Flut an Informationen im Internet ist es unerlässlich, eine kritische Haltung einzunehmen:

  • Wer ist die Quelle? Handelt es sich um eine Person mit einer wissenschaftlichen Ausbildung in Lernpsychologie oder Pädagogik? Oder ist es ein Influencer, der seine Tipps ohne wissenschaftliche Grundlage verbreitet?
  • Gibt es Belege? Werden die vorgeschlagenen Techniken durch wissenschaftliche Studien untermauert oder basieren sie auf Anekdoten und persönlichen Erfahrungen?
  • Was ist der Kontext? Sind die Tipps für das spezifische Lernziel und den Lernkontext (Schule, Studium, bestimmte Fächer) geeignet?

Während Gedächtniskünstler uns mit ihren Leistungen beeindrucken können, sollten wir uns beim alltäglichen Lernen auf wissenschaftlich fundierte Methoden konzentrieren. Aktives Abrufen, verteiltes Lernen und die tiefe Verarbeitung von Informationen sind die wahren Schlüssel zu nachhaltigem Lernerfolg in Schule und Studium. Lassen Sie sich nicht von „Gehirnakrobatik“ blenden, die für Ihre Lernziele wenig Relevanz hat.



Literatur

Bransford, J. D., & Johnson, M. K. (1972). Contextual prerequisites for understanding: Some investigations of comprehension and recall. Journal of Verbal Learning and Verbal Behavior, 11(6), 717-726.
Cepeda, N. J., Pashler, H., Vul, E., Wixted, J. T., & Rohrer, D. (2006). Distributed practice in verbal recall tasks: A review and quantitative synthesis. Psychological Bulletin, 132(5), 771–789.
Roediger, H. L., & Karpicke, J. D. (2006). Test-enhanced learning: Taking memory tests improves long-term retention. Psychological Science, 17(3), 249–255.
Rohrer, D., Dedrick, R. F., & Burgess, K. (2015). The benefit of interleaved mathematics practice is not (simply) an artifact of blocked test practice. Journal of Experimental Psychology: Applied, 21(4), 400-411.


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