Die erzwungene Lage und der Mangel aller körperlichen Bewegung beym Lesen, in Verbindung mit der so gewaltsamen Abwechslung von Vorstellungen und Empfindungen erzeugt Schlaffheit, Verschleimung, Blähungen und Verstopfung in den Eingeweiden, mit einem Worte Hypochondrie, die bekanntermaaßen bey beyden, namentlich bey dem weiblichen Geschlecht, recht eigentlich auf die Geschlechtstheile wirkt, Stockungen und Verderbnis im Bluthe, reitzende Schärfen und Abspannung im Nervensysteme, Siechheit und Weichlichkeit im ganzen Körper.
Karl G. Bauer: Über die Mittel dem Geschlechtstrieb eine unschädliche Richtung zu geben (1787)
Was die Jugend braucht, ist Disziplin und einen vollen Bücherschrank.
Vivienne Westwood
Der Umgang mit Büchern bringt die Leute um den Verstand.
Desiderius Erasmus von Rotterdam
Eine Studie von Möller & Retelsdorf (2008) sollte ausgehend vom Erwartungs-Wert-Modell der Lesemotivation untersuchen, wie sich die Präferenzen für lesebezogene Tätigkeiten wie Geschichten und Sachtexte lesen von Schülern vorhersagen lassen. Dabei sollten die Erwartungskomponente („Bin ich ein guter Leser?“) und die Wertkomponente („Lese ich gern?“) berücksichtigt werden. Bisherige Studien zeigten, dass die intrinsische Motivation der Wertkomponente als die Bereitschaft, eine Aktivität durchzuführen, definiert wird, weil die Aktivität für sich selbst befriedigend ist (vgl. Deci & Ryan, 1985, Pintrich & Schunk, 2002, Schiefele & Streblow, 2005, zit. nach Möller & Retelsdorf, 2008, S. 13). Zwei Möglichkeiten diese zu erreichen wären tätigkeitsspezifische Anreize (vgl. Rheinberg, 1989, zit. nach Möller & Retelsdorf, 2008, S. 13) und die Möglichkeit seine Neugier mit Informationen zu interessanten Themen zu stillen (vgl. Schiefele, 1991, 1996, zit. nach Möller & Retelsdorf, 2008, S. 13 f). Das Lesen würde extrinsisch motivieren, wenn es instrumentell eingesetzt wird, um beispielsweise in der Schule besser als andere zu sein. Die intrinsische Motivation wurde auch als „Leselust“ und die extrinsische Motivation als „Wettbewerb“ bezeichnet (vgl. Möller & Bonerad, 2007, zit. nach Möller & Retelsdorf, 2008, S. 14).
Es wurde also untersucht, wie sich Leseleistung (Deutschnote) und Lesemotivation auf die Lesepräferenzen auswirken. Weiters wurde versucht, Präferenzen für alternative Tätigkeiten wie Sport Treiben oder Fernsehen aus den Leseleistungen und Lesemotivationen vorherzusagen. Erwartet wurde, dass Deutschnoten und Lesemotivationen die Bereitschaft zu lesen positiv beeinflussen. Auf der anderen Seite wurden deutlich geringere bzw. sogar negative Auswirkungen der Leseleistungen und Lesemotivationen auf die Präferenz für die nicht-lesebezogenen Aktivitäten Sport Treiben und Fernsehen erwartet (vgl. Möller & Retelsdorf, 2008, S. 14).
Die Stichprobe der Studie setzte sich aus 1455 Schülerinnen und Schülern aus 60 fünften Klassen der Schularten Haupt-, Real-, Gesamtschule und Gymnasium zusammen. Sie war repräsentativ für das Bundesland Schleswig-Holstein (vgl. Möller & Retelsdorf, 2008, S. 14).
Den Schülern wurden vier mögliche Tätigkeiten zur Bewertung gegeben, davon zwei lesebezogene Tätigkeiten, nämlich Sachtexte lesen und Geschichten lesen, sowie zwei nicht-akademische Tätigkeiten, und zwar Sport treiben und Fernsehen. Ziel des ganzen Unterfanges sei es sich zu fragen, ob vorhersagbar sei, welche Tätigkeiten die Schüler gern ausüben und welche nicht. Theoretisch grundlegend für die Entscheidungen der Schüler – und daher maßgeblich für deren Prognose – sind die Fragestellungen „Bin ich ein guter Leser?“ sowie „Lese ich gerne“; in anderen Worten: die Leseleistung und die Lesemotivation. Ersteres wird abgefragt durch das Selbstbild der Schüler und von den Deutschnoten der letzten Jahre. Die Frage der Motivation wiederum kann in einen extrinsischen und intrinsischen Bereich getrennt werden. Ist eine Aktivität um ihrer selbst willen Grund genug sie auszuführen, liegt eine intrinsische Motivation vor (vgl. Deci & Ryan, 1985; Pintrich & Schunk, 2002; Schiefele & Streblow, 2005 zitiert nach Möller & Retelsdorf). Wird die Tätigkeit instrumentalisiert um ein gewisses Ziel damit zu erreichen, ist es extrinsische Motivation (vgl. Möller & Retelsdorf 2008).
Weiters wird aus diesen beiden Faktoren, Leseleistung sowie –motivation, versucht die Wahl von alternativen Tätigkeiten zu antizipieren, nämlich von Sport treiben und Fernsehen. Dies bezieht sich auf die revolutionäre Erkenntnis, dass Schüler neben Lern- und Leistungszielen auch das eigene Wohlbefinden steigernde Ziele verfolgen, die mit akademischen Tätigkeiten in Konflikt geraten können. Ein Diskussionspunkt ist hierbei die aus der Wirtschaft bekannte Kostentheorie, dass schulische Tätigkeiten sowohl direkte Kosten, wie Langeweile oder Anstrengung, verursachen, als auch Opportunitätskosten, sprich die Kosten entgangener Freizeit (vgl. Möller & Retelsdorf 2008).
Die lesebezogenen Tätigkeiten wurden getrennt abgefragt, als das Lesen von Geschichten sowie das Lesen von Sachtexten. Die Ergebnisse der Präferenzabfrage zeigten ein niedrigeres Niveau für die lesebezogenen Tätigkeiten als für die nicht-schulischen, jedoch kein besonders viel niedrigeres.
Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass das Lesen aus Interesse auf die Präferenz für das Lesen eines Sachtextes einen größeren Effekt hat als die Leselust. Beim Lesen einer Geschichte beeinflussen beide Variablen (Lesen aus Interesse und Leselust) die Wahl der Tätigkeit, wobei der Einfluss der Leselust in diesem Fall höher ist . Die Präferenz für die nicht-akademische Tätigkeit des Sport Treibens wurde weder von der Deutschnote, noch vom lesebezogenen Selbstkonzept (Wertkomponente) beeinflusst. Hingegen hat das Lesen aus Interesse einen signifikant positiven Effekt und die Leselust einen tendenziell negativen Effekt. Die extrinsische Lesemotivation förderte die Entscheidung Sport zu treiben. Beim Fernsehen wurden die Annahmen bestätigt, dass schwächere Deutschleistungen und ein niedrigeres lesebezogenes Selbstkonzept mit einer höheren Bereitschaft fernzusehen einhergehen (vgl. Möller & Retelsdorf, 2008, S. 19).
Es zeigte sich also, dass Schüler die Tätigkeit Lesen dann bevorzugen, wenn sie grundsätzlich gerne lesen, oder wenn ihnen der Inhalt des zu Lesenden gefällt. Daher kamen leicht unterschiedliche Ergebnisse für das Lesen von Geschichten – das vor allem von der grundsätzlichen Leselust beeinflusst wird – und dem Lesen von Sachtexten – die sich eher vom Interesse am Themengebiet beeinflussen lassen – heraus. Man muss daher beid intrinsischen Motivatoren getrennt betrachten. Auch wurde ein Zusammenhang erkannt zwischen der extrinsischen Motivation, besser zu lesen als andere, und der Präferenz Sport zu treiben, da anscheinend sportliche Menschen wettbewerbsorientierter sind. Jedoch war der Einfluss der Wettbewerbsorientierung eher gering. Überraschend war der Zusammenhang zwischen extrinsischer Motivation und Fernsehen, der zeigte, dass das Fernsehen sozusagen als Ausgleich für die wenig freudvolle Tätigkeit des Lesens herhalten musste. Auch die negative Beziehung zwischen Deutschnoten und Leselust konnte nachgewiesen werden, sowie die Tatsache bewiesen, dass wer ungern liest, gerne fernsieht. Bei der akademischen Tätigkeit des Lesens wurde demnach richtig vorhergesagt, dass die Leselust und das Lesen aus Interesse diese positiv beeinflusst. Lesen aus Interesse war wichtiger für die Präferenz Sachtexte zu lesen, während das Lesen von Geschichten eher von der Leselust positiv beeinflusst wurde. Auffallend war auch, dass der Wettbewerbseffekt (extrinsische Motivation) beim Lesen eine untergeordnete Rolle spielt. Bei der Präferenz Sport zu treiben könnte der positive Zusammenhang durch eine allgemeine wettbewerbsorientierte Grundhaltung erklärt werden. Was die Effekte der Motivation auf das Fernsehen betrifft, könnte man sagen, dass jemand, der ungern liest, eher schulferne Tätigkeiten wie eben das Fernsehen bevorzugt (vgl. Möller & Retelsdorf, 2008, S. 19 f).
Übrigens: Auch Bücherwürmer bleiben blind
Siehe auch Familie und Leseverhalten, Leseverständnis, Familiensprache und Freizeitsprache, Lesehäufigkeit und Lesefreude von Kindern
Literatur
Möller, J. & Retelsdorf, J. (2008). Lesen oder Fernsehen? Zur Vorhersage von Tätigkeitspräferenzen. Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, 40, 13-21.
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