„Die schulische Förderung von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf (SPF) ist seit den letzten 20 Jahren einer spannungsreichen Entwicklung unterworfen. War es bis in die Mitte der 80er-Jahre in Österreich selbstverständlich, Kinder mit Lern- oder sonstigen Behinderungen in Sonderschulen zu unterrichten, wurde mit den ersten Schulversuchen zur Integration behinderter Kinder die Trennung von Sonder- und RegelschülerInnen immer mehr hinterfragt und Modelle für einen gemeinsamen Unterricht wurden erfolgreich erprobt und evaluiert. (…) Probleme mit der konkreten Umsetzung der schulischen Integration innerhalb des weiterhin selektiven Schulsystems führten ab 2000 zu einer kritischen Analyse und zur Forderung nach einer inklusiven Schule“ (Feyerer, 2009, S. 241).
„Im Konzept der Inklusion ist nicht mehr die Integration der Minorität in die Majorität das Ziel, sondern eine Schule für alle. (…) Dabei geht es nicht darum, wo das betroffene Kind am besten platziert werden kann, sondern darum, wie das jeweilige Lernsystem an die Erfordernisse aller angepasst werden kann. (…) Grundlage für den Unterricht ist ein gemeinsames Curriculum für alle. Differenzen werden als produktiv wahrgenommen und im Unterricht fruchtbar gemacht“ (Feyerer, 2009, S. 241 f).
Integration als Parallelsystem zur Sonderschule fest verankert
„Seit 2001/2002 werden im österreichischen Durchschnitt etwas mehr als die Hälfte aller Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf integriert und die Zahl der Sonderschulen und SonderschülerInnen hat sich von 1994/1995 bis 2006/2007 um 29,5 % verringert“ (BMUK, 1994, S.5, zit. nach Feyerer, 2009, S. 242).
„Damit weist Österreich eine deutlich integrationsfreundlichere Entwicklung auf als Deutschland und die Schweiz“ (Feyerer, 2009, S. 242).
Ausmaß und Qualität der Integration differiert enorm
„Vom engagierten Schulversuch entwickelte sich die Integration zu einem flächendeckenden Angebot, wobei aber bezüglich der konkreten Umsetzung starke regionale Unterschiede, von Bundesland zu Bundesland, von Bezirk zu Bezirk, von Schule zu Schule, von Klasse zu Klasse, auszumachen sind“ (Statistik Austria, 2006/2007, zit. nach Feyerer, 2009, S. 243).
„Da sich die Entwicklung in den Bundesländern sehr ähnlich (Anstieg der Integration bis 2001/2002, dann Abflachung der Kurve), aber eben auf deutlich unterschiedlichem Niveau darstellt, können diese Unterschiede nicht mit Sättigungseffekten erklärt werden. Vielmehr dürften diese von lokalen und regionalen Traditionen sowie dem Umsetzungswillen der pädagogisch-administrativen Führungskräfte abhängen“ (Feyerer, 2009, S. 244).
Freie Elternwahl ist Fiktion
„Für das Gelingen integrativen und inklusiven Unterrichts kommt es neben günstigen Rahmenbedingungen letztlich „auf die grundsätzliche Neuorientierung des Bewusstseins, der Einstellungen, Haltungen, Kompetenzen und Verhaltensweisen der Professionellen – also vorwiegend der Lehrerinnen und Lehrer“ an und nur bei einem Zusammenwirken aller Personen und Instanzen (SchülerInnen, Eltern, LehrerInnen, Schulträger, Schulverwaltung, PolitikerInnen) kann es zu einem wirklichen Erfolg kommen“ (Feuser, 2005, S. 237 f. & Knauder, 2008, S. 26, zit. nach Feyerer, 2009, S. 244).
Auch andere Autoren kommen zu dem Schluss, dass mit den bestehenden gesetzlichen Regelungen die Realisierung integrativen Unterrichts grundsätzlich ermöglicht wird (vgl. Klicpera/Gasteiger-Klicpera, 2004a, S. 18, zit. nach Feyerer, 2009, S. 245).
Integration brachte Qualitätssteigerung in Regelschulen mit echten I-Klassen
„Bereits die Grundschulstudie zeigte, dass sich die LehrerInnen nach Überwindung einer gewissen Schwellenangst der neuen Aufgabe des gemeinsamen Unterrichts durchaus gewachsen fühlten und aus der Arbeit ein hohes Maß an Zufriedenheit (trotz hoher subjektiver Belastung) gewannen“ (Specht, 1993, zit. nach Feyerer, 2009, S. 245).
„Im Einzelnen zeigte sich in den Studien zur Sekundarstufe I, dass die SchülerInnen an Integrationsklassen ein schülerzentriertes Schul- und Lernklima wahrnehmen und mit mehr Freude in die Schule gehen, ohne dass wesentliche Elemente der Qualität des Fachunterrichts dabei beeinträchtigt werden“ (Specht, 1997, zit. nach Feyerer, 2009, S. 246).
Entwicklung steht still – Rückschritte drohen
„Sowohl quantitativ als auch qualitativ scheint es seit 2001/2002 keine wesentlichen Neuentwicklungen mehr zu geben. Die Integration wurde in vielen Regionen zum „normalen“ alltäglichen Bestandteil der österreichischen Schullandschaft“ (Feyerer, 2009, S. 247).
„Durch die Deckelung der sonderpädagogischen Ressourcen (…), den stetigen Rückgang der PflichtschülerInnen und den gleichzeitigen Anstieg der Kinder mit SPF scheint sich die personelle Situation für die Integration überproportional verschärft zu haben. Dass diese Situation auch den ab 2001/2002 eingetretenen Stillstand mitverursacht hat, kann hier nur vermutet werden“ (Feyerer, 2009, S. 248).
Der Ausbau schulischer Integration in Österreich stagniert nicht nur, sondern „in den letzten Jahren erreichte Standards werden durch kontinuierliche Verschlechterungen der personellen Rahmenbedingungen wieder zurückgefahren“(Biewer, 2006, S. 27, zit. nach Feyerer, 2009, S. 248).
Lösungsansätze
„Eine Schule für alle soll jedes Kind mit seinen Bedürfnissen in den Mittelpunkt stellen und optimal innerhalb der Gesellschaft fördern“ (Feyerer, 2009, S. 250).
„In Österreich ist das Schulsystem ebenso wie in Deutschland und der Schweiz aber immer noch von äußerer und innerer Selektion und Ausgrenzung bestimmt (…) Solange Lehrerinnen und Lehrer gezwungen sind, Kinder auf allen Stufen des Bildungssystems zu sortieren, solange die Klassen so groß sind, wie sie sind, solange Schulen wenig selbstständig arbeiten dürfen, solange wird bei vielen Lehrkräften ein Aussonderungsblick vorherrschen vor dem Willen, für jedes Kind Verantwortung zu übernehmen und kein Kind zurückzulassen“ (Deppe-Wolfinger, 2008, zit. nach Feyerer, 2009, S. 250).
In einer Studie in Deutschland überprüften Stranghöner et al. (2017) den Lernzuwachs im Lesen und Rechtschreiben bei Grundschülern mit Förderbedarf, d. h., inwieweit diese in ihren Lese- und Rechtschreibkompetenzen von einem inklusiven oder exklusiven Unterricht profitieren. Die Leistungen der Grundschüler mit Förderschwerpunkt wurden zu drei Zeitpunkten im Verlauf der dritten und vierten Klasse mit einem Leseverständnistest sowie einer Schreibprobe untersucht. Zu Beginn der Untersuchungsreihe wurden auch die Intelligenz der Kinder mit einem sprachfreien Test und Informationen über Bildungsabschluss und Berufsausbildung der Eltern sowie zum Wohlbefinden und zu weiteren emotionalen und sozialen Aspekten erhoben. Im Einklang mit früheren Studien zeigten sich durchgängig deutliche Unterschiede in den Leistungen zwischen Schülern auf Förderschulen und inklusiv beschulten Kindern. Die im inklusiven Unterricht beschulten Kinder haben bessere Ausgangswerte exklusiv Beschulte und zeigen zu allen Messzeitpunkten bessere Leistungen. Selbst zum Ende der vierten Klasse liegen die Leistungen der Förderschulkinder für den Bereich Rechtschreibung im Mittel hinter denen der inklusiv unterrichteten Kinder in der dritten Klasse. Diese Ergebnisse sind allerdings erwartbar und könnten auf Selektionseffekte hinweisen, denn leistungsstärkere Kinder mit Förderbedarf verbleiben meist im Regelschulsystem, während leistungsschwächeren Kindern eher der Wechsel zur Förderschule empfohlen wird. Die Ergebnisse im Längsschnitt zeigten auch nur geringfügige Unterschiede beim Leistungszuwachs von inklusiv und exklusiv beschulten Kindern zwischen der ersten und letzten Testung. Ein gegenläufiger Effekt war jedoch, dass sich die Lesefähigkeit bei den inklusiv beschulten Kindern stärker entwickelte als bei den exklusiv beschulten, während bei der Rechtschreibung die exklusiv beschulten Kinder mehr dazulernten. Die Geschwindigkeit der Lernfortschritte im Lesen und Rechtschreiben hängt nach den Studienautoren also weniger vom Schulsetting ab, sondern vermutlich mehr von der Qualität der Schule oder auch den Einflüssen effektiven Unterrichtens.
Literatur
Feyerer, E. (2009). Ist Integration „normal“ geworden? Erziehung und Unterricht, 159, 241 – 254.
Stranghöner, D., Hollmann, J., Otterpohl, N., Wild, E., Lütje-Klose, B. & Schwinger, M. (2017). Inklusion versus Exklusion: Schulsetting und Lese-Rechtschreibentwicklung von Kindern mit Förderschwerpunkt Lernen. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, 31, 125-136.
Bildquelle
http://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Stufen_schulischer_Integration.png (12-11-21)
Impressum ::: Datenschutzerklärung ::: Nachricht ::: © Werner Stangl ::: Psychologische Neuigkeiten für Pädagogen :::