Schon mit fünfzehn Minuten Vorlesen am Tag fördern Eltern zahlreiche sprachliche und nichtsprachliche Fähigkeiten, denn beim Vorlesen wird etwa eine ganz andere Sprachstruktur vermittelt als in einem normalen Gespräch. Was im Alltag gesprochen wird, ist meist eine reduzierte Sprache, doch beim Vorlesen geht die Sprache darüber deutlich hinaus und gibt dem Kind einen neuen sprachlichen Input, der sehr wertvoll ist. Welches Buch oder welches Genre den Kindern vorgelesen wird, ist dabei übrigens nicht so wichtig, sondern eher, dass die Kinder die Geschichten spannend finden und dabei wirklich zuhören. Wichtig ist auch, dass die Eltern selber die Geschichten gut finden, denn das spiegelt sich in der Art des Vorlesens wider.
Jimenez et al. (2019) haben Mütter dazu befragt, wie oft sie ihren 1- bis 3-jährigen Kindern aus Büchern vorlesen. Nach zwei Jahren wurde erhoben, wie oft sich Mütter verbal oder physisch aggressiv gegen ihre Kinder verhalten hatten. Dabei zeigte sich, dass Mütter, die ihren Kindern im ersten Lebensjahr regelmäßig vorgelesen hatten, später einen wesentlich lockereren und auch liebevolleren Umgang mit ihren Kindern pflegten. Auch Müttern die ihren Dreijährigen aus Bücher vorgelesen hatten, waren zwei Jahre später ebenfalls gelassener. Auch waren die Vorlese-Kinder seltener hyperaktiv oder aggressiver, was es Eltern natürlich leichter macht, mit den Kindern entspannter umzugehen. Allerdings lässt sich daraus keine Kausalität ableiten, wie bei solchen korrelativen Studien üblich, allerdings gemeinsam in ein Buch einzutauchen, blendet für einige Zeit den Alltag aus, sodass alleine die körperliche Nähe beim Lesen die Bindung von Eltern und Kindern stärken kann. Studien haben auch gezeigt, dass das gemeinsame Lesen für die kognitiven Kompetenzen der Kinder äußerst förderlich ist, denn Vorlese-Kinder lernen im Durchschnitt schneller lesen und besitzen einen im Vergleich zu anderen Kindern größeren Wortschatz, doch auch für die Konzentrationsfähigkeit sowie die Emotionskontrolle ist das Vorlesen förderlich.
Vielen Eltern fehlt im Alltag die Zeit, um ihren Kindern vorzulesen, wobei Vorlesen die Entwicklung der Kinder stark fördern kann. Eine Vorlesestudie der Stiftung Lesen, der Wochenzeitung Die Zeit und der Deutschen Bahn Stiftung, für die 528 Eltern befragt wurden, die ihren Kindern maximal einmal pro Woche vorlesen, zeigte, dass knapp siebzig Prozent der Eltern ihren Kindern regelmäßig vorlesen, die anderen dreißig Prozent nur einmal die Woche oder seltener. Rund die Hälfte der Befragten gaben an, Vorlesen mache ihnen keinen Spaß, mehr als ein Viertel findet Vorlesen auch nicht wichtig. Ein weiterer Grund für seltenes Vorlesen ist außerdem, dass es Eltern häufig an Zeit und Bereitschaft zum Vorlesen mangelt, denn etwa die Hälfte der befragten Eltern, die ihren Kindern nur selten vorlesen, gab an, dass es im Haushalt anderes zu tun gebe und sie zu erschöpft zum Vorlesen seien. 48 Prozent der Eltern glauben außerdem, dass ihren Kindern woanders schon genug vorgelesen werde, etwa im Kindergarten. Allerdings gibt es unter den nicht-vorlesenden Eltern viele, die sich das Vorlesen nicht zutrauen, sodass ein möglicher Ersatz hier Hörbücher sein können, wobei es aber der Interaktion fehlt, doch sind sie besser als gar kein Vorlesen. In den in der Studie befragten Familien haben die Kinder auch deutlich weniger Bücher als im Durchschnitt, wobei 68 Prozent angaben, dass ihre Kinder maximal zehn Bücher besitzen, doch mehr als die Hälfte fänden es aber dennoch gut, wenn ihre Kinder regelmäßig Bücher geschenkt bekämen.
Literatur
Jimenez, Manuel E., Mendelsohn, Alan L., Lin, Yong, Shelton, Patricia & Reichman, Nancy (2019). Early Shared Reading Is Associated with Less Harsh Parenting. Journal of Developmental & Behavioral Pediatrics, 10.1097/DBP.0000000000000687.
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