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Die Sprache der Mathematik

Sprache lernen im Vorübergehen! Lernposter

Fortschrittliche Schulen haben die Prügelstrafe durch Mengenlehre ersetzt.
Wolfram Weidner

Viele mathematische Aufgaben bestehen aus zum Teil ziemlich auf Grund einer notwendigen Exaktheit aus kompliziert formulierten kleinen oder längeren Texten. Diese Textaufgaben erfordern natürlich auch die Fähigkeit, die Aufgabenstellung sprachlich sehr genau zu verstehen, wobei verbal formulierte Verhältnisse, Beziehungen und Kausalitäten erfasst und dann erst in ein mathematisches Problem umgewandelt werden müssen. Ein Schüler oder eine Schülerin, die in der Sprache wenig geübt ist, hat bei einer solchen Aufgabe, besonders unter dem Druck einer Prüfung, ein ziemliches Problem. Viele Kinder scheitern deshalb an Mathematik, weil sie die dabei verwendete Sprache nicht so gut beherrschen, obwohl sie durchaus mathematisch begabt sind.

Es gibt bereits zahlreiche empirische Belege dafür, dass die Förderung der Schülersprache das Mathematiklernen von Schülerinnen und Schülern fördern kann. Offenbar gibt es einen Zusammenhang zwischen der Sprachkompetenz der Kinder im Deutschen und ihrer Leistung im Mathematikunterricht, wobei die Sprachkompetenz dabei einen größeren Einfluss als etwa der sozioökonomische Status der Kinder hat. Prediger et al. (2022) haben in einer cluster-randomisierten kontrollierten Studie unterschiedliche Effekte für verschiedene Zielgruppen untersucht. In einer Gruppe wurde mathematisches Verständnis gefördert, indem die Lernenden immer wieder zum Erklären und Begründen aufgefordert wurden, eine zweite Gruppe erhielt zusätzlich lexikalische Lerngelegenheiten, etwa Informationen zu Satzbausteinen wie „der Teil vom Ganzen“, und in einer dritten Gruppe (Kontrollgruppe) wurde der Standardunterricht ohne zusätzliche Lernangebote durchgeführt. Vor und nach den Unterrichtseinheiten testete man die mathematischen Fähigkeiten der Kinder. Advertisement Die Regressionsanalyse zeigte, dass alle Schülerinnen und Schüler ihr konzeptuelles Verständnis in beiden Interventionen signifikant vertieft hatten, doch anders als erwartet hatte die integrierte Wortschatzarbeit keinen signifikanten zusätzlichen Nutzen für das Wachstum des konzeptuellen Verständnisses der mehrsprachigen Schüler. Wenn Schülerinnen und Schüler miteinander ins Gespräch gebracht werden, miteinander interagieren und über den Stoff diskutieren, dann kommt es zu vertieftem Mathematiklernen. Diese Ergebnisse sprechen für die Förderung eines sprachsensiblen Mathematikunterrichts für alle Schülerinnen und Schüler und für die Verwendung eines diskursiven statt eines wortschatzorientierten Ansatzes.

Nach einer Befragung des Nachhilfe-Dienstleisters Lernquadrat unter 10- bis 19-Jährigen kann ein Drittel der Schülerinnen und Schüler dem Mathematikunterricht kaum folgen. Steht Mathematik am Stundenplan, verdirbt das außerdem für ein Drittel den kompletten Schultag. Knapp vierzig Prozent geben dem Unterricht ein „Genügend“ oder ein „Nicht Genügend“, wobei mit steigendem Alter die Beurteilung schlechter ausfällt. Nur 18 Prozent gaben an, dass sie der Mathematikunterricht auch auf ihr späteres Berufsleben vorbereiten würde, 37 Prozent wünschen sich daher mehr Alltagsbezug im Unterricht. Das größte Problemfeld in Mathematik sind für die Schülerinnen und Schüler jedoch Textaufgaben, doch auch das Integrieren und Wahrscheinlichkeitsrechnungen fallen vielen schwer, wobei sich 74 Prozent bessere und geduldigere Erklärungen wünschen. Viele trauen sich nicht Fragen zu stellen, wenn etwas nicht verstanden wurde, obwohl das 44 Prozent gerne tun würden. Interessanterweise wurde kein signifikanter Unterschied zwischen den Geschlechtern festgestellt.


Zahlreiche Probleme im Mathematikunterricht resultieren auch daraus, dass viele Begriffe und Aussagen im Alltag eine andere Bedeutung besitzen als in der Mathematik, etwa die Begriffe Menge oder Lösung. Doch nicht nur unterschiedliche Verwendungen solcher Begriffe bereiten SchülerInnen Probleme, sondern auch im Alltag selten verwendete Wörter, denn viele Aufgabenstellungen in Mathematik beginnen mit „Löse … !“, „Berechne … !“, „Vereinfache … !“ Diese Begriffe kommen in der Umgangssprache praktisch in dieser Form nicht vor.

Weitere Herausforderungen im Mathematikunterricht erleben SchülerInnen bei der Lösung von Sachaufgaben, denn die Szenarien sind häufig nicht der Erlebenswelt der Kinder entnommen, sondern gehören zur Erwachsenenwelt (Ratenzahlungen, Vertrag). Man sollte beim Mathematikunterricht daher die Alltagssprache immer wieder in die Mathematiksprache übersetzen und umgekehrt, d. h., welche mathematische Operation muss durchgeführt werden, wenn etwas hinzukommt, wegkommt, mehr wird, weniger wird usw. Zusätzlich enthalten Schulbücher häufig Texte, die SchülerInnen sowohl von der Begriffsverwendung als auch von der Grammatik überfordern.

Der Mathematiker Günter M. Ziegler legte 2016 in einem WIRED-Interview dar, dass wir in einer mathematisierten Welt leben, denn für Zugfahrpläne, Big Data, Verschlüsselung, sichere Kommunikation mit der Bank ist Mathematik nötig. Allerdings hat das, was man in der Schule an und über Mathematik lernt, fast nichts damit zu tun. Das Bild, das viele Menschen von Mathematik haben, aber auch das Bild, das Lehrer und Lehrerinnen in der Schule vermitteln, passt eher ins 19. Jahrhundert, und die Vielfalt dessen, was Mathematik heute ist, die Vielfalt der Teildisziplinen, die Vielfalt der Fragestellungen, der Forschungsrichtungen, der Anwendungsmöglichkeiten, wird in der Schule gar nicht vermittelt. Die Mathematik in der Schule beschränkt sich zu einem viel zu großen Teil auf das, was auch erklärt werden kann, also wie man lineare Gleichungssysteme von zwei Gleichungen und zwei Unbekannten auflöst, das kann zwar mit der Zeit jeder verstehen und das wird dann auch erklärt und gerechnet. Allerdings sollte aber auch vermittelt werden, wie Mathematik in das Leben eingreift, wie etwa ein Wetterbericht berechnet wird, eben nicht durch Gleichungen mit zwei Unbekannten, sondern 50.000 Unbekannte wie die Temperatur, die Windrichtung und die Windgeschwindigkeit an den Messstationen. Auch ist der Anteil an der großen Wissenschaft Mathematik, der in der Schule bearbeitet wird, dass man ihn versteht, nur ein winziger Ausschnitt eines riesigen Wissengebietes.

Fazit: Einerseits besteht in der Öffentlichkeit eine hauptsächlich durch die Bildungsinstitutionen vermittelte Abwehr gegenüber der Mathematik, andererseits kommt der Mathematik zum Verständnis der uns umgebenden Welt eine wachsende Bedeutung zu, und stellt darüber hinaus auch eine Schlüsselkompetenz für weiterführende Studien im berufsbildenden und universitären Sektor dar. Kaum eine Berufsausbildung oder eine Studienrichtung kommt heute ohne elementare mathematische Kenntnisse aus, dennoch stellt der aktuelle Mathematikunterricht weltweit immer noch eine entscheidende Bildungshürde für viele Kinder und Jugendliche dar. Daher werden zur kontinuierlichen Entwicklung des Lehrens und Lernens von Mathematik zahlreiche innovative Konzepte entwickelt, die auf die Verbesserung des Mathematikunterrichts abzielen, wie etwa interdisziplinärer und projektartiger Unterricht oder die Integration von Unterrichtsbeispielen mit Bezügen zu Alltag und Wissenschaft.


In einem Interview in der Badischen Zeitung vom 30. Juni 2018 erklärt Albrecht Beutelspacher, Leiter des Museums „Mathematikum“, warum Mathematik vielen Menschen so kompliziert erscheint. Nach seiner Ansicht ist diese für viele sehr abstrakt und weit weg von dem, was man so kennt. Dass viele Menschen Probleme mit Mathematik haben liegt an zwei Dingen: „Zum einen ist da die mathematische Sprache: Bruchstriche, Klammern, Pluszeichen… Das ist, als würde man eine neue Sprache mit ganz fremden Regeln lernen müssen. Zum anderen hat Mathematik viel mit Denken und Vorstellen zu tun, da muss man sich drauf einlassen.“ Damit Mathematik mehr Spaß macht, sollte man erkennen, dass man durch eigenes Denken etwas herauszufinden kann. Dabei muss man also etwas verstehen wollen und bereit sein, ein bisschen dabei nachzudenken, denn man bekommt Lösungen nicht durch Probieren heraus, sondern muss irgendwann die richtige Idee haben. Wichtig sind dabei die mathematischen Begriffe, d. h., es ist sinnvoll, diese zu lernen und auch mit anderen drüber zu reden, gemeinsam zu überlegen und Ideen zu entwickeln. „Es hilft auch, sich draußen umzuschauen: Kreise, Linien, rechte Winkel, Parallelen – unsere Umwelt ist voller Mathematik. Wenn man das einmal im Kopf hat, sieht man auch mehr.(…) Mit ein paar guten Mathekenntnissen hat man einfach mehr vom Leben.“


In einem Internetartikel schwärmt ein Mathematikstudent von Primzahlen: „Primzahlen sind ein großer Teil unseres Alltags, sie sind wichtig für Verschlüsselung. Aber sie sind auch an sich so schön, so außergewöhnlich, sie sind einzigartig im Vergleich zu den anderen Zahlen, weil sie ja nur durch eins und sich selbst teilbar sind, das ist das besondere an Primzahlen.“ Und dass es von denen unendlich viele gibt, kann er mal eben aus dem Stegreif beweisen: „Angenommen wir haben nur endlich viele Primzahlen, dann kann ich die alle miteinander multiplizieren und die Zahl die dabei raus kommt, ist durch jede der Primzahlen teilbar, weil ich habe sie ja alle miteinander multipliziert und wenn ich dieses Produkt plus eins rechne, ist die Zahl durch keine der Primzahlen mehr teilbar, von denen wir angenommen haben, dass es nur endlich viele gibt, das heißt sie ist selber schon wieder eine Primzahl.“


Studien, die ein ein ganzheitliches Bild des Mathematikunterrichts gewinnen und einen Zusammenhang zwischen bestimmten Unterrichtsmerkmalen und dem Lernerfolg von Schülerinnen und Schülern herstellen wollen, haben festgestellt, dass Lernprozesse im Schulfach Mathematik dann offenbar besonders erfolgreich sind, wenn LehrerInnen das Vorwissen ihrer SchülerInnen berücksichtigen und Lerninhalte systematisch verknüpfen. Da gerade in Mathematik so viel vom Vorwissen abhängt, ist es auf jeden Fall wichtig, die fachlichen Kompetenzen systematisch aufzubauen und den erreichten Stand bei den SchülerInnen immer genau zu kennen.


Lehrl et al. (2019) haben in einer Studie untersucht, wie sich das Aufwachsen von Kindern in einer Familie, in der sie schon früh zum Lernen angeregt werden, auswirkt. Im Detail wurde untersucht, wie bedeutsam die familiäre Lernumgebung in den frühen Lebensjahren für die Kompetenzentwicklung bis zur Pubertät ist. Dabei zeigte sich, dass Eltern, die ihre Kinder im Vorschulalter dazu anregen, schriftliche, sprachliche und mathematische Fähigkeiten zu entwickeln, etwa durch gemeinsames Würfelspielen oder Bilderbüchern anschauen, in weiterführenden Schulen bessere Lese- und Mathematikfähigkeiten zeigen. Das gilt auch für die Förderung in Kindergärten, denn frühere Studien hatten bereits gezeigt, dass ErzieherInnen einen positiven Einfluss auf Kinder und deren mathematische und sprachliche Entwicklung haben, wenn diese gemeinsam mit ihnen lesen, alltägliche Situationen sprachlich begleiten oder auch Würfel- und Brettspiele spielen.




Literatur

Lehrl, Simone, Ebert, Susanne, Blaurock, Sabine, Rossbach, Hans-Günther, Weinert, Sabine (2019). Long-term and domain-specific relations between the early years home learning environment and students’ academic outcomes in secondary school. School Effectiveness and School Improvement, doi:10.1080/09243453.2019.1618346.
Prediger, S., Erath, K., Weinert, H., & Quabeck, K. (2022). Only for Multilingual Students at Risk? Cluster-Randomized Trial on Language-Responsive Mathematics Instruction. Journal for Research in Mathematics Education, 53, 255-276.
Stangl, W. (2022, 29. September). Sprachförderung zur Verbesserung der Mathematikleistungen. was stangl bemerkt …
https:// bemerkt.stangl-taller.at/sprachfoerderung-zur-verbesserung-der-mathematikleistungen
https://www.wired.de/collection/science/warum-wir-mehr-ahnung-von-mathe-brauchen-das-wired-interview (16-07-12)
https://www.uni-hamburg.de/presse/pressemitteilungen/2016/pm60.html (16-07-18)
http://www.badische-zeitung.de/neues-fuer-kinder/wie-eine-neue-sprache–154077608.html (18-06-30)
https://www.deutschlandfunk.de/faszination-fuer-mathematik-primzahlen-sind-ein-grosser.680.de.html?dram:article_id=443519 (19.03-16)


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