Die weit verbreitete Vorstellung, dass jeder Mensch einem bestimmten Lerntyp angehört – etwa visuell, auditiv, haptisch oder verbal – wirkt auf den ersten Blick einleuchtend. Viele glauben, dass sie effektiver lernen können, wenn sie ihre bevorzugte Sinnesmodalität kennen und nutzen. Genau das versprechen unzählige Lerntypentests, Ratgeber und Onlinebeiträge: Wer seinen Lerntyp kennt, soll angeblich leichter, schneller und nachhaltiger lernen. Doch diese Vorstellung ist ein Mythos – es gibt keine wissenschaftlich belastbaren Belege dafür, dass typengerechtes Lernen tatsächlich funktioniert.
Die Einteilung in Lerntypen existiert zwar schon seit den 1970er-Jahren, insbesondere das Vier-Typen-Modell nach Vester ist bekannt. Doch neben diesem gibt es Dutzende weitere Ansätze, die Lernende in Kategorien einordnen wollen. Eine große Studie amerikanischer Forscher fand über 70 solcher Modelle – doch keine davon konnte in methodisch sauberen Studien nachweisen, dass sich der Lernerfolg durch eine Orientierung an Lerntypen verbessert. Im Gegenteil: Die wenigen wissenschaftlich fundierten Untersuchungen zeigen übereinstimmend, dass die Einteilung nach Sinneskanälen nicht hilfreich ist. Sie suggeriert eine Einfachheit des Lernens, bei der Informationen quasi automatisch über das bevorzugte Sinnesorgan ins Gedächtnis gelangen – eine Illusion, die der tatsächlichen Komplexität von Lernprozessen nicht gerecht wird.
Trotzdem hält sich der Mythos hartnäckig. Das liegt unter anderem daran, dass viele Lernende – besonders solche mit Lernproblemen – durch Lerntypentests überhaupt erst beginnen, sich mit ihren Lernstrategien auseinanderzusetzen. Der Test wirkt wie ein Impulsgeber, durch den neue Methoden ausprobiert werden. Die kurzfristige Verbesserung der Lernleistung liegt dabei aber nicht an der vermeintlichen „typgerechten“ Methode, sondern an der Erweiterung des methodischen Repertoires. Der Test selbst wird zum Einstieg in eine reflektiertere Lernhaltung. Langfristig kann die Typenzuordnung jedoch problematisch sein, wenn sie zur Selbstbeschränkung führt – etwa indem jemand glaubt, nur durch Zuhören oder nur durch Sehen lernen zu können.
Zudem wird häufig übersehen, dass Lernende meist nicht nur einen Sinneskanal nutzen. Wer etwa ein Lernvideo anschaut, nimmt Informationen gleichzeitig visuell und auditiv auf – die beiden Lerntypen werden also gemischt. Genau dieses kombinierte Lernen, etwa durch Bilder und gesprochene Erläuterungen, ist laut der Multimedia-Lerntheorie von Richard Mayer besonders effektiv. Dieser sogenannte Modalitätseffekt zeigt, dass das Gehirn Informationen besser verarbeitet, wenn mehrere Kanäle gleichzeitig angesprochen werden. Das hat nichts mit Lerntypen zu tun, sondern mit kognitiver Entlastung und effizienter Informationsverarbeitung.
Die Schlussfolgerung lautet: Statt sich auf die vermeintliche Einteilung in Lerntypen zu verlassen, sollten Lernende verschiedene Methoden und Sinneskanäle flexibel kombinieren. Je nach Inhalt, Ziel und Situation können unterschiedliche Lernstrategien sinnvoll sein. Lernen ist ein lebenslanger Prozess, bei dem sich die persönlichen Vorlieben und Vorgehensweisen im Laufe der Zeit verändern können. Wer offen bleibt und mit verschiedenen Methoden experimentiert, ist langfristig erfolgreicher. Die Fixierung auf Lerntypen hingegen schränkt das Lernen unnötig ein und lenkt vom Wesentlichen ab: dem aktiven, bewussten und vielseitigen Umgang mit Wissen.
Literatur
Stangl, W. (2008, 20. Juli). Lernstile – was ist dran?. [werner stangl]s arbeitsblätter.
https://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/PUBLIKATIONEN/Lernstile.shtml
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